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(Aus: Udo Leuschner, „Kurzschluß - wie unsere Stromversorgung teurer und schlechter wurde“, S.163-168)

E.ON löst europaweiten Stromausfall aus

Es begann mit der routinemäßigen Abschaltung einer Hochspannungsleitung


Am 4. November 2006 fiel ab 22.10 Uhr in weiten Teilen Europas für mehr als eine halbe Stunde der Strom aus, weil der Netzbetreiber E.ON eine Fehlschaltung durchgeführt hatte, die das von Stromflüssen überlastete europäische Transportnetz kollabieren ließ. Das Netz der UCTE zerfiel dadurch in drei Inseln mit unterschiedlicher Frequenz. Mehr als zehn Millionen Menschen waren zeitweilig ohne Strom. Die meisten Betroffenen gab es in der westlichen Insel, in der Strommangel herrschte und deshalb automatische Lastabschaltungen erfolgten, nachdem die Frequenz auf 49 Hertz abgesunken war. Allein in Frankreich waren rund fünf Millionen Menschen ohne Strom. Auch in Teilen Deutschlands, Belgiens, Österreichs, der Niederlande, Italiens, Portugals und Spaniens wurde die Versorgung bis fast zwei Stunden unterbrochen. In Deutschland gehörten die Netze von RWE und EnBW zur westlichen Insel. Östlich dieser Grenze gab es dagegen nach der Auftrennung des UCTE-Netzes ein Überangebot an Strom, das die Frequenz bis auf 50,6 Hertz ansteigen ließ und ebenfalls zu erheblichen Komplikationen bei der Stromversorgung führte. Zu diesem Bereich gehörten die Netze von E.ON und Vattenfall, der östliche Teil Österreichs sowie Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Am geringsten waren die Auswirkungen (Frequenzabfall bis auf 49,7 Hertz) in der dritten Insel, die aus den Balkanstaaten und Griechenland bestand.

Am 14. November veröffentlichte die E.ON Netz GmbH in Abstimmung mit der Bundesnetzagentur das vorläufige Ergebnis ihrer Untersuchungen. Demnach hat die für E.ON Nord zuständige Netzleitstelle Lehrte die jeweilige Situation zwar grundsätzlich ordnungsgemäß beurteilt, aber unter hohem Zeitdruck nicht alle technischen Hilfsmittel für eine umfassende Lagebewertung genutzt. Die kritische Situation begann um 21.38 Uhr mit der planmäßigen Abschaltung der 380-kV-Leitung Diele – Conneforde, die bei der Ortschaft Weener über die Ems führt. Damit sollte dem Kreuzfahrtschiff „Norwegian Pearl“, das auf der Meyer-Werft in Papenburg gebaut worden war, die gefahrlose Durchfahrt zur Nordsee zu ermöglicht werden.

Die Abschaltung der Leitung über die Ems war Routine und schon oft durchgeführt worden. Neun Minuten vor der Abschaltung führten die beiden Ingenieure in der Netzleitstelle anhand der aktuellen Netzdaten nochmals eine Simulationsrechnung durch, die keine Grenzwertverletzungen ergab. Sie unterließen es aber, auch das sogenannte N-1-Kriterium anhand der aktuellen Daten ein weiteres Mal zu überprüfen. Stattdessen glaubten sie aufgrund vorangegangener Berechnungen und ihrer langjährigen Erfahrung annehmen zu können, daß auch beim Ausfall einer weiteren Leitung eine Überlastung des Netzes ausgeschlossen sei und somit die N-1-Regel eingehalten werde.

Es habe grundsätzlich im Ermessen der Mitarbeiter gelegen, auf eine erneute Überprüfung des N-1-Kriteriums zu verzichten, hieß es in dem Bericht. Die beiden Ingenieure seien aber von der irrigen Annahme ausgegangen, daß bei der Kuppelleitung Landesbergen – Wehrendorf die Schutzeinstellungen in Wehrendorf (RWE) denen in Landesbergen (E.ON) entsprächen und deshalb der im Leitsystem hinterlegte Grenzwert von 2000 Ampere vorübergehend um bis zu 25 Prozent überschritten werden könne. Erst um 21.45 Uhr hätten sie bei einem Telefonat von den RWE-Kollegen erfahren, daß diese Annahme falsch war.

„Unvorhersehbare“ Stromflüsse führten zur Überlastung von Leitungen

Nach der Abschaltung der Hochspannungsleitung über die Ems um 21.38 Uhr stellten sich im wesentlichen die erwarteten Lastflüsse ein. Die bereits angespannte Situation auf den verbliebenen Leitungen spitzte sich aber zu, nachdem um 22.00 Uhr die neuen „Fahrpläne“ für die Netznutzung umgesetzt worden waren, die in stündlichem Rhythmus die Lastflüsse verändern. Ab 22.05 Uhr begann sich eine Überlastung der 380-kV-Leitung Landesbergen – Wehrendorf abzuzeichnen, die E.ON mit dem Netz von RWE verbindet. Dieser Anstieg sei nicht vorhersehbar gewesen, betont der Bericht von E.ON Netz. Möglicherweise müsse er „in einem UCTE-weiten Kontext“ gesehen werden und habe mit veränderten Kraftwerkseinspeisungen außerhalb des eigenen Regelgebiets zu tun gehabt.

Jedenfalls wurde um 22.07 Uhr der Sicherheitsgrenzwert der Leitung Landesbergen – Wehrendorf (1800 Ampere) überschritten. Um die Erreichung des Schutzgrenzwerts (1990 Ampere) und damit die automatische Abschaltung zu verhindern, veranlaßte die E.ON-Netzleitstelle die Zusammenschaltung mehrerer Leitungen im Umspannwerk Landesbergen. Entgegen den Erwartungen führte dies aber zu keiner Entlastung, sondern vielmehr zu einer zusätzlichen Belastung und Abschaltung der Leitung. Und nun zeigte sich, daß entgegen den Erwartungen auch das N-1-Kriterium nicht erfüllt war: Der Ausfall der Kuppelleitung zum RWE-Netz bewirkte nach Art eines Dominoeffekts die Überlastung und automatische Abschaltung weiterer Leitungen, bis das UCTE-Netz in drei Inseln zerfallen war.

 

 

Nach dem Zerfall des UCTE-Systems um 22.10 Uhr gab es im Osten ein Überangebot an Stromerzeugung, das die Frequenz bis auf 50,6 Hertz ansteigen ließ (obere Kurve). Im Westen fehlte es dagegen an Strom, weshalb die Frequenz auf 49,0 Hertz abstürzte. Der völlige Zusammenbruch der Stromversorgung in Westeuropa konnte nur durch die massenhafte Abschaltung von Verbrauchern vermieden werden. Da die drei Teilnetze in reduzierter Form funktionsfähig blieben, konnten sie gegen 22.47 Uhr wieder zusammengeschaltet und die Frequenz bei 50 Hertz stabilisiert werden.

Millionen Industrie- und Haushaltskunden abgeschaltet

Infolge der Auftrennung des UCTE-Netzes in drei Teilnetze entstand im Osten ein Überangebot und in der westlichen sowie der südöstlichen Insel ein Mangel an Strom. Um den völligen Zusammenbruch der Versorgung zu verhindern und das Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch wieder herzustellen, kam es in der nunmehr unterversorgten westlichen Insel zur Abschaltung von Millionen Industrie- und Haushaltskunden. im Osten mußte dagegen die überschüssige Erzeugung durch Abschalten von Kraftwerken und den Einsatz von Pumpspeicherkraftwerken im Pumpbetrieb verringert werden, bis es gegen 22.47 Uhr gelang, die Teilnetze wieder zu verbinden und bei einer Frequenz von 50 Hertz zu stabilisieren.

Zur normalen Netzlast von 13 700 MW kamen Stromtransite von 7 300 MW

Die beiden Ingenieure der Netzleitstelle Lehrte, denen die Fehlschaltung passierte, wurden auf andere Arbeitsplätze versetzt. Die Darstellung von E.ON vermittelte indessen nicht den Eindruck, als ob sie es an der sonst üblichen Sorgfalt hätten fehlen lassen. Vielmehr scheinen sich die beiden gerade an die bisherige Praxis gehalten zu haben. Zum Verhängnis wurden ihnen dabei die „unvorhersehbaren“ Stromflüsse, deren Herkunft auch der E.ON-Bericht nicht rekonstruieren konnte. Grundsätzlich dürften aber solche unkalkulierbaren Lastflüsse auf die enorme Zunahme des Stromhandels zurückzuführen sein, der die dafür nicht konzipierten Netze der UCTE bis an den Rand des technisch Möglichen strapazierte. Zum Beispiel betrug am Abend des 4. November die Verbrauchslast im Gebiet der E.ON Netz GmbH rund 13 700 MW. Zugleich wurde das E.ON-Netz aber durch Transitflüsse in Höhe von etwa 7 300 MW belastete.

 

 

Die anfängliche Vermutung, eine unerwartete Einspeisung von Windstrom habe den Zerfall des UCTE-Netzes ausgelöst, erwies sich als haltlos. Wie diese Grafik zeigt, war zum Zeitpunkt des Stromausfalls am 4. November 2006 die Einspeisung von Windstrom ins E.ON-Netz weder ungewöhnlich hoch noch wich sie nennenswert von der Prognose des Netzbetreibers ab. Als um 22.10 Uhr das westeuropäische Verbundnetz in drei Inseln mit unterschiedlicher Frequenz zerfiel, ergab die viertelstündliche Leistungsmessung eine durchschnittliche Windstrom-Einspeisung von 3309 Megawatt (MW) und für die folgende Viertelstunde von 3373 MW.

Versorgungssicherheit nur in Deutschland verschlechtert

Nach dem peinlichen Stromausfall wollte der Verband der Netzbetreiber (VDN) belegen, daß Deutschland hinsichtlich der Versorgungssicherheit mit Strom noch immer an der Spitze der europäischen Länder liege. Anhand seiner Störungs- und Verfügbarkeitsstatistik errechnete er für das Jahr 2005 eine durchschnittliche Unterbrechungsdauer der Stromversorgung je Kunde von 19 Minuten, was gegenüber dem Vorjahr eine Verbesserung um 4 Minuten bedeuten und auch im europäischen Vergleich den besten Wert darstellen würde (mangels aktueller Zahlen verglich der VDN in den meisten Fällen mit Werten von 2004). Vergleicht man nun allerdings die vom VDN für 2005 bzw. 2004 ermittelten Zahlen mit früheren VDEW-Angaben für das Jahr 2001, ergeben sich für alle Nachbarländer deutliche Verbesserungen der Versorgungssicherheit. Lediglich Deutschland steht schlechter da, auch wenn man anstelle von 23 Unterbrechungs-Stunden für das Jahr 2004 die nunmehr vom VDN errechneten 19 Stunden für das Jahr 2005 heranzieht:

 

 

Durchschnittliche Unterbrechungsdauer
der Stromversorgung je Kunde in Minuten

  2004 * 2001 **
Deutschland 23 15
Niederlande 27 34
Österreich 30
Frankreich 51 59
Großbritannien 61 78
Italien 76 171
Finnland 103 199
Spanien 118 179
Portugal 149 531
Irland 157 197
  * VDN-Angaben laut Pressemitteilung vom 15.12.2006 / ** VDEW-Stromdaten


In den hier genannten Zahlen nicht enthalten sind „extreme Einzelereignisse“, die auf „höhere Gewalt“ zurückzuführen sind. Dazu gehört auch der tagelange Stromausfall im Münsterland, der im November 2005 von ungewöhnlich starker Eislast an Hochspannungsleitungen verursacht wurde. Würde dieser Stromausfall berücksichtigt, ergäbe sich für Deutschland im Jahr 2005 eine störungsbedingte Nichtverfügbarkeit von 30 Minuten pro Kunde.

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