Udo Leuschner / Medien-Theorie
Inhaltsübersicht


Der Stalinist: Otto Gotsche (mit SED-"Bonbon" im Knopfloch) Der Opportunist: Hermann Kant tat allen wohl und niemandem wehe Hintergründige Kritik: Erwin Strittmatter Ankunft beim Ich: Brigitte Reimanns "Franziska Linkerhand"

Zwischen den Zeilen

Zur Rolle der Literatur in der DDR

Von der keimfreien "Parteilichkeit" der aktuellen Medien profitierte die DDR-Literatur. Zwar gab es auch hier platte Agitprop-Schreiber (Otto Gotsche usw.) Die anspruchsvolleren Schriftsteller kontrastierten jedoch Schein und Sein, Anspruch und Wirklichkeit des realexistierenden Sozialismus im Rahmen der gegebenen Grenzen. Diese Grenzen wurden einerseits durch die herrschende Doktrin des "sozialistischen Realismus", andererseits vom Bewußtsein des jeweiligen Autors bestimmt. Wie eng die Fesseln der Doktrin zeitweilig waren, zeigen die wütenden Angriffe auf Erwin Strittmatter, weil er seinen "Ole Bienkopp" (1963) zum Schluß des Romans sterben ließ. Die Wächter des 1959 dekretierten "Bitterfelder Weges" witterten hinter dem tragischen Ende eines sozialistischen Romanhelden nicht zu Unrecht einen Angriff auf die ideologische Doktrin vom "nichtantagonistischen" Charakter der Widersprüche im Sozialismus. Das Moment des Tragischen war unvereinbar mit dem verordneten falschen Bewußtsein. Hermann Kant zollte diesem Tabu und dem offiziell befohlenen Optimismus auf listige Weise Tribut, als er im Schlußsatz seines Romans "Die Aula" (1964) mit Seitenblick auf Strittmatter schrieb: "Hier ist niemand tot, und hier ist auch niemand zornig, und hier wird schon noch geredet werden."

Vertiefung der Subjektivität durch phantastisch-romantische Elemente

Solcher Opportunismus, der sich geschmeidig der Parteidoktrin anpaßte, war nicht jedermanns Sache. Der Konflikt zwischen Doktrin und besserer Einsicht ließ viele Autoren ihre Zuflucht zu phantastisch-romantischen Elementen nehmen, die innerhalb der Fiktion des Romans eine zweite Fiktion einführen und so eine Vertiefung der Subjektivität ermöglichten. Hierzu gehört etwa der "Meisterfaun", der in Strittmatters dreiteiligem Hauptwerk "Der Wundertäter" als Über-Ich des Helden auftritt. Christa Wolf ließ mit den "Neuen Lebensansichten eines Katers" den Kater Murr der Romantik wiederauferstehen. Die parteioffizielle Literaturkritik bemerkte mißgestimmt, es würde "nicht wundernehmen, auch anderem Getier von E. T. A. Hoffmann, Johann Ludwig Tieck und Heinrich Heine neu zu begegnen, ferner blauen Blumen, Leuten ohne Schatten, Teufeln und anderen Taugenichtsen".

Auch eher naive Autoren, die sich grundsätzlich im Einvernehmen mit der Partei wähnten, konnten unwillentlich und unwissentlich zu Rebellen werden. So beschwor Brigitte Reimann mit "Franziska Linkerhand" (1974) eine Utopie vom ungebrochenen Menschen, die einer latenten Kampfansage an die herrschenden Verhältnisse gleichkam. In der Realität der DDR hätte die Franziska Linkerhand kaum minder tragisch enden müssen wie die Autorin mit ihrem verzweifelten Optimismus selbst. Aus der "Ankunft im Alltag" (1961), mit der Brigitte Reimann einst gehorsam den Bitterfelder Weg beschritt, wurde so unversehens die Ankunft beim Ich. Programmatischen Ausdruck fand dieses "Zu-sich-kommen" in Christa Wolfs "Nachdenken über Christa T." (1968). Aus der Unmöglichkeit, die gesellschaftlichen Widersprüche offen zu benennen, entstand eine starke Tendenz, diese gesellschaftlichen Widersprüche im Spiegel der individuellen Psyche zu reflektieren. Es entstand so etwas wie eine DDR-spezifische Innerlichkeit, die mit ihrem Rückzug auf das Private und Individuelle die ritualisierte Öffentlichkeit desavouierte und deren Sprechhülsen als falsches Bewußtsein entlarvte. Ähnliches gilt für die Frauenliteratur (Irmtraud Morgner, Maxie Wander), die das Defizit gesellschaftlicher Emanzipation an der Stellung der Frau reflektierte. Letztlich wurden so die gesellschaftlichen Konflikte, die unverhüllt nicht angesprochen werden durften, in die Zerrissenheit des Individuums übersetzt. Diese Übersetzung in eine allgemeingültige Sprache machte die neuere DDR-Literatur wiederum für das Publikum in der BRD interessant, dessen Konflikte einer anderen gesellschaftlichen Sphäre entstammten.

In der DDR wurde Literatur noch ernst genommen

Die DDR-Literatur genoß das Privileg, noch ernst genommen zu werden - vom Leser wie von den herrschenden Gewalten. Sie war in der glücklich-unglücklichen Lage, tatsächlich noch wider den Stachel löcken und damit eine jahrhundertealte Tradition fortsetzen zu können, die für die Literatur im hochentwickelten Kapitalismus zur hohlen Attitüde geworden ist. In den realsozialistischen Ländern herrschte faktisch die einfache Warenzirkulation des vorkapitalistischen Stadiums. Das bedeutete, daß das Geistige eher beiläufig und sekundär die Form der Ware annahm, die Voraussetzung seiner Verbreitung ist. Weitaus wichtiger als das Leserinteresse bzw. die Zwänge des Marktes waren die administrativen Zwänge. Sie waren es, die primär über das Erscheinen oder Nichterscheinen eines Buches entschieden. Im hochentwickelten Kapitalismus spielen administrative Zwänge hingegen kaum eine Rolle. Hier wird die Zensur durch die Gesetze des Marktes, die Verwertungsbedingungen des Kapitals besorgt.

Sogar der kulturkritische Vorwurf, daß sich der Geist als Ware prostituiere, wirkt hier bereits obsolet. Die Wirklichkeit ist weitaus trostloser: Es ist die Ware, welche die Form des Geistigen annimmt. Der kapitalistisch organisierte Kulturbetrieb ist grundsätzlich Selbstzweck: Er erweckt bloß noch den Anschein geistiger Auseinandersetzung, wo es in Wirklichkeit um die Auslastung von Druckkapazitäten, um Auflagenhöhe, Einschaltquoten und Besucherzahlen geht. Die kapitalistische Bewußtseinsindustrie transportiert alles, vom größten Schwachsinn bis zur Enthüllung ihrer eigenen Strukturen, sofern und solange sich ein Käufer dafür findet.

Die Spannung zwischen Bedürfnis und Befriedigung, die im Kapitalismus Warencharakter annimmt und dadurch schon im Moment ihres Entstehens der Lösung zugeführt wird, blieb in einer Gesellschaft wie der DDR mehr oder weniger unaufgelöst. Dies führte zu einer gesteigerten Sensibilität. Der DDR-Bürger war darauf trainiert, "zwischen den Zeilen" zu lesen. Er goutierte feine Anspielungen und Nuancen, die ein Bundesbürger in aller Regel nicht bemerkt und nicht verstanden hätte. Deshalb war auch die Rezeption des kulturellen "Erbes", die in der BRD von den Vermarktungschancen abhing, in der DDR noch von geistigem Belang. Zum Beispiel geriet die Romantik - in der BRD eher eine Spezialstrecke für Historiker und Germanisten - unter Intellektuellen der DDR zum Thema von politischer Sprengkraft. Unter denselben Auspizien konnte die protestantische Kirche, die in der BRD eher unter Desinteresse litt, in der DDR zum Kristallisationspunkt oppositioneller Kräfte werden.

Sogar scheinbar unpolitische Unterhaltung wurde mit anderen Augen gesehen. So konnte die Offenbach-Operette "Ritter Blaubart", die Walter Felsenstein noch zu Ulbrichts Zeiten an der Komischen Oper inszenierte, durchaus als untergründige Verspottung des Stalinismus rezipiert werden. Gerade die bekannte Doppelbödigkeit des Stücks diente dabei als Tarnung: Gegen eine Travestie des Second Empire konnte - honi soit qui mal y pense - auch der strammste Parteibonze nichts einwenden. In der poststalinistischen DDR herrschte aber durchaus eine ähnliche psychologische Konstellation wie unter der Diktatur Louis Bonapartes. Auch hier war die Kluft zwischen Schein und Sein, zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Systems kaum zu verheimlichen. Vor einem kongenial gestimmten Publikum löste so der "Ritter Blaubart" erneut "echtes Grauen in Komik auf" (Kracauer). Wenn zum Beispiel Blaubart seine Vermählung mit dem Hirtenmädchen Boulotte als die Verschmelzung von "Palast und Hütte" feiern läßt, diente die Persiflage bonapartistischer Demagogie nur noch als parteifrommer Vorwand für eine ätzende Satire auf die nicht minder gewaltsame "Volksverbundenheit" des Stalinismus. In den katzbuckelnden Höflingen um den König Bobeche vermochte der gewitzte Zuschauer unschwer den Byzantinismus der eigenen Führung wiederzuerkennen. Noch der Umstand, daß bei Offenbach die Frauen des Blaubarts fröhlich weiterleben, ließ sich als Anspielung auf die im Vergleich zu Stalin mildere Herrschaft des "Spitzbarts" verstehen.

(Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus meinem Buch "Entfremdung - Neurose - Ideologie", Bund-Verlag, Köln 1990.)