Udo Leuschner / Medien-Theorie
Inhaltsübersicht

Sklavensprache

Eine bewundernswerte Glosse zur "Reichskristallnacht"

(Aus: die feder - Zeitschrift der Deutschen Journalisten-Union, November 1982)

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten in ganz Deutschland die Synagogen, wurden Geschäfte und Wohnungen jüdischer Mitbürger geplündert, wurden Juden drangsaliert, verhaftet und ermordet. Mit der "Reichskristallnacht" begann ein neuer Abschnitt der Judenverfolgung, der in den wenig später errichteten Massenvernichtungslagern gipfelte. Neu waren nicht nur das Ausmaß und die Brutalität der planmäßig inszenierten Pogrome. Neu war auch die Schamlosigkeit, mit der hier der Nationalsozialismus sein Programm der Unmenschlichkeit auf offener Straße verkündete.

Auch in Mannheim brannte damals die Synagoge, plünderte SA-Mob jüdische Geschäfte und kippte das Mobiliar aus jüdischen Wohnungen auf die Straße. Es regte sich aber auch noch vereinzelt Widerstand gegen den öffentlich angezeigten Marsch in die totale Unmenschlichkeit.

Ein besondere Bravourstück war die Lokalglosse, die damals ein Redakteur der "Neuen Mannheimer Zeitung" in die Spalten seines gleichgeschalteten Blattes schmuggelte. Sie war ein Meisterstück der "Sklavensprache": Bei oberflächlicher Lektüre schien sie nicht mehr als das Stimmungsbild eines Novembermorgens zu enthalten. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen nächtlichen Ereignisse kippten die Sätze jedoch nach Art eines Vexierbildes um. Dem kundigen Leser enthüllten sie sich als metaphorische Brandmarkung der Pogrome, als ein Zeugnis des Abscheus, der Empörung und düsterer Prophetie:


Rauch

Es ist zeitig am Morgen, und über die Adolf-Hitler-Brücke flutet der eben von der Nachruhe erwachte Verkehr. Der Zementbelag des Radfahrerwegs ist schon merklich abgeschliffen. Still, fast befangen, geht der Neckar seinen gewohnten Weg. Wohin das Auge auch blickt, überall hängen graue Schleier, ganz zart und fein, wie Spinnengewebe. Kein Zweifel mehr, es wird doch Winter werden! Das hat sich heute kundgetan.

Dieses schmutzige Grau, das dem ausschreitenden Morgen nicht weichen will, hat Tränen in den Augen, und man fühlt, davon benetzt zu werden. Es ist wohl mit sich selbst nicht zufrieden. So müssen denn die schwarzen Rauchwolken, die aus den hohen Kaminen weit im Halbrund aufsteigen, in heilloser Vereinsamung durch den tristen Raum irren. Auch sie lehnen sich gegenseitig ab, und so erscheinen sie denn am Firmament als langgestreckte Fahnen, die über der Stadt stehen.

Da ist nichts mehr von Jubel, von Farbe und Licht. Grau und schwarz sind Diktator geworden. Werden sie stehen bleiben, werden sie weitergehen? Wenn ihr Beharrungszustand über unsern Häusern sich löst, dann wird es viel Ruß regnen, der nur mit viel Seife wird wieder wegzuwaschen sein.

 

Man weiß nicht so recht, ob man mehr die stilistische Eleganz oder den persönlichen Mut des Verfassers bewundern soll. Nach dem Schriftleitergesetz von 1933 lastete die politische Verantwortung für den Inhalt der Zeitung auf dem Redakteur. Bei Verstoß gegen die Richtlinien der NSDAP konnte er mit Löschung aus der Berufsliste bestraft und damit seiner Existenz beraubt werden - von Schlimmerem mal abgesehen.

Dem tut auch kein Abbruch, daß die Pogrome der "Reichskristallnacht" damals bis in die Reihen der Mannheimer NSDAP umstritten gewesen sein sollen und daß gar die Polizei bestimmte Straßen, in denen der SA-Mob wütete, nur deshalb abgeriegelt habe, um die Braunhemden vor der Empörung der Bürger zu schützen. (Die Glosse nimmt auch hierzu Stellung: Es ist vom "schmutzigen Grau", die Rede, das "wohl mit sich selbst nicht zufrieden" sei, und von den "schwarzen Rauchwolken", die sich gegenseitig ablehnten.)

Sicher ist, daß diese Glosse den Spielraum überschritt, den das Goebbelsche Pressekonzept den sogenannten bürgerlichen Blättern gegenüber den grobschlächtigen "Kampfblättern" der amtlichen Parteipresse zubilligte. Bei aller Metaphorik erhebt sie sich in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit auch über den vielzitierten "Widerstand zwischen den Zeilen", auf den sich später so mancher berufen zu können glaubte, nur weil er eine feinere Variante der NS-Publizistik nach Art der "Frankfurter Zeitung" oder des "Reichs" pflegen durfte.

Es läßt sich nicht ermitteln, welche unmittelbaren Konsequenzen diese Glosse, die in ihrer Art wohl einmalig in der damaligen gleichgeschalteten NS-Presse war, für ihren Verfasser gehabt hat. Immerhin läßt sich aber mit einiger Sicherheit sagen, wer sich hinter dem Kürzel "h." verbarg: Es handelte sich um den Redakteur Dr. phil. Erich Hunger. Dieser war zunächst am "Institut für Zeitungswesen" in Heidelberg tätig und ging dann, nachdem er sich dort mit dem Institutsleiter Prof. Eckart überworfen hatte, als Feuilletonredakteur zum "Mannheimer Tageblatt". Nach dem Urteil seines damaligen Chefredakteurs, des späteren ersten DJV-Vorsitzenden Dr. Helmut Cron, war Hunger ein sprachlicher Virtuose und der brillanteste Journalist in ganz Mannheim.

Dennoch oder gerade deshalb wurde er vom "Mannheimer Tageblatt"-Verleger Waldkirch, der mit seinem Konzern den Zeitungsmarkt in der Pfalz beherrschte und ein eifriger Parteigänger des Nationalsozialismus war, ums Jahr 1933 aus der Redaktion hinausgeworfen. Hunger fand daraufhin eine Anstellung als Lokalredakteur bei der "Neuen Mannheimer Zeitung". Er hat das Erscheinen dieser Glosse nicht lange überlebt: Bald darauf wurde er als Soldat an die Front geschickt und ging 1940 mit dem Schlachtschiff "Blücher" vor Narvik unter.